Heide Stuhr


Von der Waldschänke zum „Jagdhaus am Riesenbett“

Heide Stuhr erinnert sich

Ich bin in Dassendorf aufgewachsen. Meine Großeltern gründeten im Mai 1926 die Waldschänke, eine am Wald gelegene Gastwirtschaft mit Verkauf von belegten Broten und Milchausschank. Zum Schinkeneinkauf begleitete ich ab 1946 meine Großmutter Berodt, eine geborene Eck. Sie ging stets mit Stricknadel los. Die Nadel steckte sie den angebotenen Schinken entlang des Knochens tief ins Fleisch. So konnte sie am Geruch der Nadel ermitteln, wie gut der Schinken war. Ich fand den Geruch herrlich und wusste gleich, dass die beliebten Schinkenbrote den Gästen schmecken würden. Diese Brotmahlzeiten waren weit über das Dorf hinaus bekannt, aber auch zunehmend die Zubereitung der Wildgerichte.

Mein Großvater, wie mein Vater und alle späteren Generationen meiner Familie, war passionierte Jäger. Während der Schonzeit gab es in der Waldschänke eher die Brotmahlzeiten; in der Abschusszeit dann jede Menge Wildgerichte. Wir holten Eisblöcke, legten sie in einen schweren Schrank und versuchten so, für eine Woche ein eigenes Kühlhaus zu nutzen. Dennoch musste das Fleisch schnell verwertet werden.

Hier waren meine Großmutter und meine Mutter sehr findig. Meine Großmutter konnte vier verschiedene Soßen dazu kreieren, was von den Gästen besonders geschätzt wurde. Meine Großmutter überließ das Ausweiden den Jägern, aber am Holzherd war sie die Chefin. Ich stand gern dabei und sah ihr zu, denn es war dort immer warm. Ich fror besonders im Winter immer jämmerlich. Die Strumpfbänder hielten wohl die Strümpfe bis zum Knie hoch warm, aber die Oberschenkel waren immer kalt.

Weil ich in Aumühle zur Schule ging, damit ich der Prügelei der Dassendorfer Lehrer entging, musste ich oft zu Fuß durch den Wald gehen. Zwar kam mir mein Vater auch mal mit einem Fahrzeug entgegen, aber oft passte es nicht in den Ablauf der Schänke und ich wurde begrüßt: „Ach, da bist du ja schon. Dann muss dich ja niemand abholen.“ Nach solchen Wegen war mir warm, nur die Oberschenkel nicht. Der Herd meiner Großmutter war durch die Flammen im Ofen derart heiß, dass ich schnell warme Beine bekam. Ein gekippter Topf auf der Platte konnte noch vor sich hin schmoren.

Zunehmend wurden auch alkoholische Getränke ausgeschenkt. Ganz entsetzlich waren die Himmelfahrts- und Pfingsttage. Dann erschienen viele Gäste, so dass bis zu 18 Kellnerinnen zu tun hatten. Aber die meisten Männer waren bereits in einem alkoholisierten Zustand, der sich bei uns in der Wirtschaft noch vergrößerte. Am Ende gab es Streit, als gehörte das dazu. Mit den Schlägereien gab es zerbrochenes Geschirr oder Gestühl. Selbst die Kellner konnten nichts ausrichten. Ich war froh, wenn so ein Tag unbeschadet für die Wirtschaft vorüberging.

Die Jägerei brachte uns jede Menge verletzter Tiere ein, die ein Notquartier erhielten. Waren es zunächst verletzte Vögel, kam bald Damwild, ein Frischling, den wir Jolante nannten, und ein junges Hirschkalb, das wir Bambi nannten, hinzu. Die Gehege wurden größer und wir kümmerten uns um die Sicherheit der verletzten Tiere. Jolante gefiel es so gut, dass sie wohl mal ausbüxte, aber wiederkam und sechs Frischlinge warf.

Mit diesen Gehegen und ihren Tieren wurden wir zu einem beliebten Ausflugsziel verschiedener Schulen aus Reinbek und Bergedorf. Bambi wuchs zu einem stattlichen Achtender heran. Ein Betrunkener dachte, er sollte ihn sich mal vornehmen und kletterte ins Gehege. Wir wussten gleich, dass der Mann keine Chance gegen Bambi hatte. So ein Rothirsch hat enorme Kräfte. Mein Vater warf eine Kiste auf Bambis Geweih, weshalb der Rothirsch stehenblieb. So zerrten wir den Mann wieder aus dem Gehege. Ein anderes Mal wurde ein Hund in das Gehege des Damwildes gelassen, in dem gerade ein junges Rehkitz geboren war. Der Hund hetzte das Kitz und die Besitzerin unternahm nichts Entscheidendes. Ich kletterte unbeeindruckt von meinem kurzen Rock und den schmalen Schuhen über das Gatter und versuchte die beiden Tiere zu trennen. Das gelang mir gar nicht. Dem Kitz hing bereits die Zunge aus dem Hals. Da rief ich meinem Mann zu, er möge die Büchse holen und den Hund erschießen. Sofort wurde der Hund zurückgerufen und die Hetzerei hatte ein Ende. Ich sah aus, als hätte ich im Schlamm gebadet. Ja, mit diesen Gehegen lernte ich die Tiere mit ihren Lauten verstehen. Wenn ein angefahrenes Tier schreit - das möchte keiner hören. Das ist eine Klage.
Die Waldschänke war bei Reitern beliebtes Ausflugsziel, weil es entlang eines Reiterpfades lag. Doch gefiel es ihnen auch, mal gegen 23 Uhr aufzutauchen und ein kräftiges Gericht zu wünschen. Doch weil man sich kannte, wurden solche Wünsche niemals ausgeschlagen. Auch verschiedene Treibjagden wurden in der Waldschänke gefeiert.
Und dann hatte diese Herrlichkeit plötzlich ein Ende, weil die Waldschänke am 21. Januar 1956 abbrannte. Ich als Jugendliche hatte bei meiner Großmutter geschlafen. Mir blieb nur, was ich am Leib trug, und ein Teddy. Es war ein Totalschaden, entstanden durch einen defekten Elektroanschluss, der meine Familie vollkommen erschütterte. Doch die Kriminalpolizei befragte meine Eltern so, als hätten sie den Brand gelegt. Sie durften nicht mehr miteinander reden, wurden einzeln abgeführt und befragt. Wir kamen uns vor, als hätten wir etwas verbrochen. Dabei hatten wir den Schaden, der sich noch vergrößerte, weil man nachts das fortschaffte, was nun draußen stand. Es wurde gestohlen, was wertvoll war oder erschien. Aber es wurde auch geschenkt. Mitleidige Seelen gaben uns von ihren Möbeln.

Wir zogen auf den Hof von Berodt, denn es musste wieder aufgebaut werden. Auf den Resten entstand wieder ein Holzhaus mit einem großen Ofen in der Mitte und vielen Stützbalken. Dieser Raum mit der niedrigen Decke war vielen urgemütlich, weshalb Gäste lieber hier als vor dem Haus in der Sonne saßen. Den Namen änderten wir nun, da es in einiger Nähe eine weitere Waldschänke gab.

Nun nannten wir uns „Jagdhaus am Riesenbett“. Mit dem Neubau kamen einige Hotelzimmer dazu. Da wurden wir auch für die Teilnehmer der Treibjagden der Bismarcks zu interessanten Quartiermeistern. Wir erfuhren, wer alles an Herrschaften eingeladen war. Und wir erlebten, wie die Herrschaften sich in einem einfachen Hotel benahmen. Ich beurteilte schnell diese Gäste in die, die nett mit dem Personal umgingen und die, für die das Personal Luft war. Je vornehmer die Gäste, desto mehr Verhaltensmaßregeln wurden uns mitgeteilt.

Ach eigentlich war es eine Waldschänke, in der all das vorkam, was das Leben zu bieten hat. Jemand nahm sich im Hotelzimmer das Leben oder bei einem großen Festakt sank die Tante tot zu Boden. Wir mussten immer ruhig und besonnen reagieren, auch wenn uns nicht danach zu Mute war. Das war noch mal etwas anderes als die beste Küche aus der Umgebung darzustellen.

Trotzdem war ich stolz, drei Mal in Folge als beste Gastronomin des Kreises 1978, 1979 und 1980 ausgezeichnet zu werden und im Land 1980 den 3. Platz zu erhalten. Auch heute wohne ich in direkter Nähe zur alten Waldschänke und erfreue mich an den 30 alten Eichen des Waldgrundstücks. Und natürlich habe ich ein Gehege mit Tieren, nur nicht mehr mit so großen.

Erzählt von Heide Stuhr

Aufgezeichnet von Birte Marr und Wilfried Falkenberg

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Hotel 1960er Postkarte 1/2

Riesenbett 1950

Fotos: privat

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